China in der Erdbeschreibung Alexander von Humboldts

Von Naoji Kimura (Tokyo)

Introduction:

Alexander von Humboldt: Discourse between Natural Sciences and Humanities. Its significance from the standpoint of the Japanese Scholar Prof. Naoji Kimura

#0 ||Alexander von Humboldt: Discourse between Natural Sciences and Humanities.

Einleitung:                                

Professor Naoji Kimura ist ein bekannter Germanist und gehört zu den  renommiertesten Goethe- und Humboldtforschern. Er hat viele Werke von Johann Wolfgang Goethe, vor allem dessen naturwissenschaftliche Schriften ins Japanische übersetzt. Seit vielen Jahren arbeitet er an der Übersetzung des umfangreichen Oeuvres Alexander von Humboldts.

Sein Studium der Germanistik begann Kimura 1955 in Japan (Tokyo). Er schloss es 1963 in München ab und promovierte 1965 zum Dr. phil. Seit 1963 arbeitete er als Dozent an der Sophia Universität Tokyo und übernahm dort 1975 eine ordentliche Professur für Germanistik. In der Folgezeit engagierte er sich sehr stark für die Belange der Germanistik, insbesondere beschäftigte ihn das Leben und Werk Goethes. Von 1997 bis 2008 war er mit Unterbrechung als Gastprofessor für japanische Sprache und Kultur sowie für Germanistik an der Universität Regensburg tätig. Er war Mitherausgeber des Jahrbuchs für Internationale Germanistik, Vizepräsident der japanischen Goethe-Gesellschaft und Kuratoriumsmitglied des Deutsch- ostasiatischen Wissenschaftsforums in Baden -Württemberg. Er ist z. Zt. korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt.

In einem Grußwort an die Asiatische Germanisten Tagung (AGT) in Seoul, welche im August dieses Jahres stattfand, wies er auf die für ihn inspirierende Begegnung und den Dialog mit dem bekannten chinesischen Germanisten und Übersetzer Zhang Yushu hin. Im Jahre 2001 gründete Zhang Yushu die „Literaturstraße – Chinesisch-deutsches Jahrbuch für Sprache, Literatur und Kultur“.  Herausgeber der im Verlag Könighausen & Neumann publizierten Literaturstraße ist Professor Zhang Yushu, Professor Kimura ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats. Ende 2014 erschien in der Literaturstraße Bd. 15 sein Aufsatz  „China in der Erdbeschreibung Alexander von Humboldts.

In seinem Grußwort erinnerte Kimura daran, dass „nicht die koreanische, chinesische oder japanische Germanistik, sondern die ostasiatische Germanistik […] ihren Anfang […] im Jahre 1985 in Bad Godesberg [genommen hat], als Herr Professor Zhang Yushu  (Peking) im Gästehaus der Humboldt Stiftung Zimmernachbar von Herrn Byong Ock Kim, ein hoch verehrter Senior aus Seoul war“, den wiederum Kimura als einer der Organisatoren der IVG  Tokyo 1990 kennenlernen durfte. „Glücklicherweise wurde ich bald darauf von dem koreanisch-chinesischen Freundespaar als der jüngste Bruder anerkannt. Damals haben wir in der deutschen Sprache ein gemeinsames Kommunikationsmittel gefunden, was im Laufe der Zeit zu näherer gegenseitiger Verständigung sowie Versöhnung und Freundschaft geführt hat.“ Kimura zitierte dann aus Professor Zhangs autobiographischer Aufsatzsammlung „Mein Weg zur ‚Literaturstraße‘“(Würzburg 2009). „Aus dieser Freundschaft entstand ein Dreiländerbündnis, was (im März) 1990 in Peking zu einem Germanistentreffen zwischen China und Japan und 1991 in Berlin zu einem Germanistentreffen zwischen drei Ländern mit deutschen Kollegen als Gästen führte,  noch ehe die diplomatischen Beziehungen China und Südkorea hergestellt wurden.“

Eine der frühesten internationalen wissenschaftlichen Tagungen, die 7. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte, an der  sechshundert deutsche und ausländische Gäste aus Schweden, Norwegen, Dänemark, Holland, England und Polen teilnahmen, habe, wie Kimura hervorhob, am 18.September 1828 in Berlin stattgefunden. „Alexander von Humboldt präsidierte diese Tagung und sprach bei der Begrüßung im Namen der europäischen Naturwissenschaft von den ‚schönsten Blüten der Humanität, Wissenschaft und Kunst‘. „Diesen humanen Geist deutscher Wissenschaft in der Goethezeit können wir ostasiatische Germanisten mit vier chinesischen Schriftzeichen 切磋琢磨  (wörtlich Edelsteine schneiden und polieren, also sich geistig und wissenschaftliche feilend ausbilden) annähernd verstehen lernen.“

Aufgrund seiner herausragenden Bemühungen um die deutsche Sprache wurde Professor Kimura mit vielen Preisen ausgezeichnet: Goethepreis der Goethegesellschaft in Japan 1977, Philipp-Franz-von-Siebold Preis 1982 (Humboldt-Stiftung), Verdienstkreuz 1.Klasse der Bundesrepublik Deutschland 1992, Goethe Medaille des Goethe Instituts in München 1996 und Goldene Goethemedaille der Goethe Gesellschaft in Weimar (2003). 2003 wurde ihm von dem DAAD der Jacob- und Wilhelm-Grimm Preis  verliehen. Seit  2003 ist er Vizepräsident eines kulturwissenschaftlichen Instituts  (INST) in Wien.

Elisabeth Hellenbroich

 

China in der Erdbeschreibung Alexander von Humboldts

Naoji Kimura (Tokyo)

 

Abstract: Alexander von Humboldt (1769-1859) hatte in seinem langen Leben keine Gelegenheit, Land und Leute von China unmittelbar zu erleben. Als er im April 1829 auf Einladung des russischen Zaren, von Gustav Rose und Ehrenberg begleitet, zu einer russisch-asiatischen Reise aufbrach, gelangte er allerdings mit seinen Begleitern über Westsibirien schließlich bis an die Grenzen der chinesischen Dsungarei. Hier erhielt er die Erlaubnis, die Grenze zu überschreiten. Er benutzte es sogleich, um dem mongolischen Posten Baty einen kurzen Besuch abzustatten. Er interessierte sich vor allem für den „Bergrücken von Mittel-Asien zwischen dem Goldberg oder Altai und dem Kuen-lun, von der chinesischen Mauer an bis jenseits des Himmelsgebirges [Tian-shan] gegen den Aralsee hin“. In der Naturkunde beschäftigte er sich mit Flora, Naturgefühl, Landschaftsmalerei und Gartenkunst, besonders aber mit Naturkenntnissen in China.

 

Mein Thema hat auf den ersten Blick mit dem Generalthema der Tagung „Literatur und Sprache im Prozeß der Geschichte“ wenig zu tun. Geht es doch weder um die Literatur noch um die Sprache. Aber ich hoffe, daß es zumindest um die Geschichte geht, nämlich um eine Ideengeschichte der menschlichen Bemühungen, der Natur ein kosmisches Weltbild abzugewinnen. Im 19. Jahrhundert haben sich so viele deutsche Naturforscher auf die Forschungsreisen nach Amerika, vornehmlich Südamerika, Afrika und Ostasien begeben, um sich von dem immer nationalistisch werdenden Vaterland, dem preußischen Deutschland, zu befreien. Es ist ihnen gelungen, auf diese Weise die ganze Welt zu entdecken und die Erde wissenschaftlich zu beschreiben. So ist die Geographie ihnen eine Humanwissenschaft geworden, in der der Mensch stets in Kontaktaufnahme mit der Naturumgebung existiert. Indem sie sich dabei von der physischen zur kulturellen Geographie entwickelte, haben sich die Naturwissenschaftler zugleich vielfach als gebildete Geisteswissenschaftler erwiesen.

Der große Naturforscher Alexander von Humboldt (1769-1859) hatte in seinem langen Le-

ben keine Gelegenheit, Land und Leute von China unmittelbar zu erleben, wie auch sein   Berliner Nachfolger in der Geographie Carl Ritter (1779-1859). Es war eine Generation spä- ter Ferdinand von Richthofen (1833-1905), der als deutscher Geograph erstmals nach China

fahren konnte. In den Jahren 1860-62 nahm Richthofen an einer von Graf Eulenburg geleite- ten preußischen Handelsmission nach China, Japan und Südostasien teil, reiste dann allein  in Südostasien. Nach anschließenden geologischen Studien in Kalifornien führte er schließlich1868-72 Reisen in China durch, unterbrochen durch einen Aufenthalt in Japan 1870/71. Sein fünfbändiges Hauptwerk lautete China. Ergebnisse eigener Reisen und darauf gegründete Stu-dien mit Atlas. Die uns vertraute Seidenstraße wurde von ihm so bezeichnet. Auch hatte

Heinrich Schliemann (1822-1890) als Privatmann ab 1858 vor der Entdeckung von Troja    Bildungsreisen u.a. in Indien, China und Japan gemacht. Sein Reisebericht: La Chine et le  Japon au temps présent (1867) wurde erst 1984 ins Deutsche übersetzt. Ein halbes Jahrhun- dert später machte noch Hermann Graf von Keyserling (1880-1946) ebenfalls so eine Reise. Aber er war naturwissenschaftlich wenig engagiert und schrieb nur ein zweibändiges Reiseta-gebuch eines Philosophen (1919/1920).

Die preußische Delegation von Graf Eulenburg segelte, nebenbei bemerkt, am 24. Februar 1861 von Nagasaki ab und kam über Shanghai in Peking an. Aber damals durften die mitge-fahrenen Naturforscher noch keine wissenschaftlichen Expeditionen in China unternehmen.   Deshalb reisten sie über Taiwan und Philippinen nach Java, um in Thailand mit der diploma-tischen Delegation wieder zusammenzutreffen. Hier nahm Richthofen von der gesamten Mann-schaft Abschied und fuhr, wie gesagt, noch 1862 allein nach Kalifornien weiter und faßte im August 1868 den Entschluß, doch noch Forschungsreisen ins Hinterland Chinas zu wagen,  zumal das Land geographisch weitgehend unbekannt blieb. Erst durch seine umfangreichen   Reisen und Forschungsergebnisse wurden Land und Leute von China den Europäern wissen-  schaftlich erschlossen. Weil aber am 22. Juni 1870 die politischen Unruhen von Yi he tuan ausbrachen, mußte er das Land verlassen und sich eine Weile wieder in Japan aufhalten.

Vor dieser ganzen Nachgeschichte hatte Humboldt bekanntlich zu Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere in den Jahren 1799-1804 seine vorbildliche lateinamerikanische Forschungsreise unternommen und veröffentlichte nach der Rückkehr einen seinem Bruder Wilhelm von Humboldt gewidmeten Essayband Ansichten der Natur (3. Aufl. 1849). Indem er über seine Erlebnisse in Südamerika berichtete, kam er aber auch darauf, Geschichte und Geographie von China öfter zu erwähnen, wobei vor allem Informationen des deutschen Orientalisten Julius Klaproth herangezogen wurden1. Es war insbesondere in dem Einleitungskapitel „Über die Steppen und Wüsten“ der Fall. Denn er hielt es aus ethnologischen Gründen für mehr als wahrscheinlich, daß „die westlichen Völker des Neuen Kontinents lange vor Ankunft der Spanier im Verkehr mit Ost-Asien gestanden haben“.2 So interessierte er sich einerseits für den „Bergrücken von Mittel-Asien zwischen dem Goldberg oder Altai und dem Kuen-lun,von der chinesischen Mauer an bis jenseits des Himmelsgebirges [Tian-shan] und gegen den Aralsee hin“3. Andererseits fragte er sich: „Sollte vielleicht, als das lang erschütterte Reich der Hiongnu zerfiel, das Fortwälzen dieses mächtigen Stammes auch im Nordosten von China und Korea Völkerzüge veranlaßt haben, bei denen gebildete Asiaten in den Neuen Kontinent übergingen?“4 Dieses sein doppeltes Anliegen in der physischen Erdbeschreibung wurde im Laufe der Jahre immer mehr erweitert. In der Naturkunde beschäftigte er sich so in seinem Hauptwerk Kosmos (1845-58) mit Flora, Naturgefühl Landschaftsmalerei und Gartenkunst, besonders aber mit den früh entwickelten Naturkenntnissen in China, worauf es im folgenden einzugehen gilt.

Als Humboldt im April 1829 nach Beendigung seines Amerikawerkes auf Einladung des russischen Zaren, vom Mineralogen Gustav Rose und dem Zoologen Christian Gottfried Ehrenberg begleitet, zu einer russisch-asiatischen Reise aufbrach, gelangte er mit seinen Begleitern über Westsibirien zumindest bis an die Grenzen der chinesischen Dsungarei. Hier erhielt er die Erlaubnis, die Grenze zu überschreiten, was er sogleich benutzte, um dem mongolischen Posten Baty einen kurzen Besuch abzustatten. „Indem er (vom Dsaisang-See) auf dem Irtysch zurückschiffte, erblickte er an den einsamen Ufern dieses Wassers in einer Ausdehnung von mehr als 5200 Meter ungeheure Felsmassen von horizontal gelagertem und geschichtetem Granit, welcher auf Thonschiefer ruhte, dessen Schichten theils ganz senkrecht, theils im Winkel von 85 Graden standen.“ 5 Der Rückweg von diesem Mittelpunkt Asiens, wo Humboldt am 17. August eingetroffen war, ging am Kaspischen Meer und Sankt Petersburg vorbei wieder nach Berlin am Ende Dezember des gleichen Jahres. Unterwegs hatte er die Bekanntschaft eines Russen gemacht, der durch den Verkehr mit China viele chinesische Gerätschaften, Bilder und andere Merkwürdigkeiten besaß und sie dem Reisenden gern zeigte.

Es ist natürlich sehr schwer, die mit Alphabet wiedergegebenen Orts- und Personennamen im alten China zu identifizieren. Aber es lohnt sich, sie mit allen Mitteln herauszufinden, weil man dabei nicht nur die universalwissenschaftlichen Bemühungen Alexander von Humboldts, sondern auch die chinesische Kulturgeschichte erneut gründlich studieren kann. Beispielsweise handelt es sich bei den „Hiongnu“ nach dem Humboldt-Kenner Hanno Beck eigentlich um Hsiung-nu. Sie bildeten während der Han-Zeit ein mächtiges Nomadenreich im Norden und Nordwesten Chinas.

Um zu Einzelheiten mit China-Bezug in den erdkundlichen Ausführungen der Ansichten der Natur zu kommen, so wird zuerst „ein brauner Hirtenstamm (tukiuischer, d. i. türkischer Abkunft), die Hiongnu“6 genannt, der in ledernen Gezelten die hohe Steppe von Gobi bewohnte. Hierbei wird seine obengenannte gewagte Hypothese über die Völkerwanderung der Asiaten nach Amerika ausgesprochen, die aber nach seiner Meinung durch Sprachvergleichung bekräftigt werden soll. Im Anschluß daran vermutete er sogar folgendes: „Vielleicht landete an den Küsten von Neu-Kalifornien, durch Stürme verschlagen, eine von jenen asiatischen Priesterkolonien, welche mystische Träumereien zu fernen Seefahrten veranlaßten und von denen die Bevölkerungsgeschichte von Japan zur Zeit der Thsinschi-huan-ti ein denkwürdiges Beispiel liefert.“7 Mit „Thsinschi-huan-ti“ ist selbstverständlich der Ch’in-Kaiser Shih huang-ti gemeint. Bei dieser Hypothese bzw. Vermutung verglich er, wie es in der Originalanmerkung 29 heißt, das mexikanische und tibetanisch-japanische Kalenderwesen, die wohlorientierten Treppen-Pyramiden und die uralten Mythen von den vier Zeitaltern oder Weltzerstörungen wie von der Verbreitung des Menschengeschlechts nach einer großen Überschwemmung miteinander. Diese Hypothese entstand zwar noch vor landeskundlichen Studien eines Richthofen, legt aber wenigstens Zeugnis davon ab, daß Humboldt sich in seinen geographischen Überlegungen schon damals der drei Länder China, Korea und Japan durchaus bewußt war. Vor ihm hatte Herder immerhin in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit diese Länder in Ostasien mehr oder weniger ausführlich behandelt8.

In den Ansichten der Natur nimmt das letzte Kapitel „Das Hochland von Cajamarca, der alten Residenzstadt des Inka Atahuallpa“ insofern Bezug auf China, als das Wort China im Sinne einer Baumart der Chinawälder oder als China-Sammler gebraucht ist. Ansonsten heißt es im Zusammenhang mit den peruanischen Kunststraßen verallgemeinernd: „Bei Völkern, welche auf den verschiedensten Stufen der Bildung stehen, sieht man die Nationaltätigkeit sich mit besonderer Vorliebe in einzelnen Richtungen bewegen; aber die auffallende Entwicklung solcher vereinzelten Tätigkeiten entscheidet keineswegs über den ganzen Kulturzustand. Ägypter, Griechen, Etrusker und Römer, Chinesen, Japaner und Inder zeigen uns diese Kontraste.“9 In der entsprechenden Originalanmerkung 7 wird auf den Kontrast des griechischen Schönheitssinns und des römischen praktischen Sinns beim Städtebau hingewiesen. Hier zulande fällt mir persönlich die Chinesische Mauer fast mit dem architektonischen Sinn der Römer auf, während in Japan ein Nachahmungssinn wie in Nara oder Kyoto ausgeprägt gewesen zu sein scheint. Sie sind doch ohne die Stadtmauer genau so gebaut wie die altehrwürdige chinesische Stadt Xian.

In Humboldts umfangreichem Lebenswerk Kosmos, das von Herders weltgeschichtlicher Betrachtungsweise und dessen Humanitätsgedanken sehr beeinflußt ist, kommen nur die ersten zwei Bände in Frage, da die letzten zwei faktisch ihre ausführlicheren Ergänzungen darstellen. Beim 1. Band geht es in der Hauptsache um den Hauptteil „Naturgemälde“, der Naturerscheinungen in Himmel und Erde beschreibt, und beim 2. Band um den Hauptteil „Geschichte der physischen Weltanschauung“, der sich als einzelne Naturgemälde in zeitlicher Folge herausstellt. Beide Teile sind jeweils mit ein paar einleitenden Kapiteln versehen und enthalten sowohl im ersten naturbeschreibenden als auch im zweiten geschichtlichen Hauptteil zahlreiche Stellen mit China-Bezug. In ihnen wird China allerdings nicht so sehr im Hinblick auf seine philosophisch-literarische Tradition, sondern vielmehr vom Gesichtspunkt der Naturforschung hochgeschätzt. Die deutschen Sinologen sind hauptsächlich mit dem ersteren Aspekt beschäftigt. So heißt es im astronomischen Teil generell: „[anders als bei Griechen und Römern] bietet die reiche Literatur der naturbeobachtenden, alles aufzeichnenden Chinesen umständliche Notizen über die Sternbilder dar, welche jeglicher Komet durchlief.“10 Die chinesischen Astronomen beobachteten seit alters besonders die Kometen sehr genau und registrierten diese in ihren Annalen.

Speziell über die Frage hinsichtlich der geographischen Verteilung der Vulkane, ob die vulkanische Tätigkeit in Verbindung mit der Nähe des Meeres stehe, als könne sie ohne dieselbe nicht fortdauern, wird im sogenannten „Naturgemälde“ im 1. Band des Kosmos u. a. auch aus dem chinesischen Gebiet eine topographische Erscheinung angegeben, daß „in Zentralasien eine große vulkanische Gebirgskette, der Tian-shan (Himmelsgebirge), mit dem lavaspeienden Pe-schan, der Solfatare von Ulmchi und dem noch brennenden Feuerberg (Ho-tscheu) von Turfan, fast in gleicher Entfernung (370 — 382 Meilen) vom Litoral des Eismeers und dem des Indischen Ozeans liege. Der Abstand des Pe-schan vom kaspischen Meer ist auch noch volle 340 Meilen, von den großen Seen Issyk-kul und Balchasch ist er 43 und 52 Meilen.“11 Es wird ferner berichtet, daß die chinesischen Schriftsteller 10 Li lange Lavaströme des Pe-shan, die im 1. und 7. Jahrhundert die Umgegend verheerten, beschreiben. Humboldt meint demnach, diese Tatsachen machten es wahrscheinlich, daß Meeresnähe und das Eindringen von Meerwasser in den Herd der Vulkane nicht unbedingt notwendig zum Ausbrechen des unterirdischen Feuers sei. Hat er doch den südlichen metallreichen Teil des Altaigebirges unter dem zweifachen Einfluß der Erschütterungsherde vom Baikalsee und von den Vulkanen des Himmelsgebirges gefunden.

Damals zog dieser Teil des nördlichen Asien durch die sibirischen Goldwäschen die Aufmerksamkeit der Beteiligten auf sich: „Sie (=die Region des Goldsands) fällt nach zweierlei Kombinationen entweder in das tibetische Hochland östlich von Bolorkette zwischen Himalaja und Kuen-lun, westlich von Iskardo oder nördlich vom Kuen-lun gegen die Wüste von Gobi hin, welche der immer so genau beobachtende chinesische Reisende Hiuen-thsang (aus dem Anfang des 7. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung) ebenfalls als goldreich beschreibt.“12 Aber unabhängig von den Vulkanen oder vom Goldsand heißt es auch über das ortsbedingte Klima: „Die großen Steppen des Flachlands von Sibirien werden durch die ungeheure Aufschwellung des asiatischen Bodens zwischen den Breitengraden von 28 1/2°bis 40°zwischen dem Himalaya, dem nordtibetischen Kuen-lun und dem Himmelsgebirge, kompensiert.“13 Sodann wird noch die mittlere Jahrestemperatur berücksichtigt: „Peking (39°54´) an der Ostküste von Asien hat eine mittlere Jahrestemperatur (11,3°), die über 5 °geringer ist als die des etwas nördlicher liegenden Neapel. Die mittlere Temperatur des Winters in Peking ist wenigstens 3°unter dem Gefrierpunkt, wenn sie im westlichen Europa, selbst zu Paris (48°50´) , volle 3,3°über dem Gefrierpunkt erreicht. Peking hat also eine mittlere Winterkälte, die 2 1/2°größer ist als das 17 Breitengrade nördlichere Kopenhagen.“14

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Im 2. Band des Kosmos geht es im Hauptteil um eine geschichtliche Darstellung. Dabei ist Humboldt hinsichtlich der alten Geschichte Chinas über etwa nachstehend genannte Begebenheiten orientiert: „Im ganzen Altertum, gleichsam am äußersten Horizont des wahrhaft historischen Wissens, erblicken wir schon gleichzeitig mehrere leuchtende Punkte, Zentren der Kultur, die gegeneinander strahlen: …China seit der ersten Kolonie, die vom nordöstlichen Abfall des Kuen-lun her in das untere Flußtal des Hoangho eingewandert war.“15 Er geht also nicht von der biblischen Voraussetzung eines einzigen Menschenpaars als Urahnen des Menschengeschlechts aus, sondern setzt gleich mit mehreren Stämmen und Kulturzentren ein. Es handelt sich dabei vorzugsweise um ägytische, chinesische und indische Völker: „Die Geistesbildung der Griechen und Römer ist … ihrem Anfang nach eine sehr neue zu nennen, im Vergleich mit der Kultur der Ägypter, Chinesen und Inder.“16 „In den Regionen, wo man vor Jahrtausenden vieles früher wußte“, wie er meint, „ist entweder eine alles verdunkelnde Barbarei wiederum eingetreten; oder neben der Erhaltung alter Gesittung und fester, komplizierter Staatseinrichtung (wie in China) ist doch der Fortschritt in Wissenschaft und gewerblichen Kunstfertigkeiten überaus gering.“17

Nach Humboldt „war die Kultur in ihren früheren Sitzungen … in China an reiche Stromlandschaften gefesselt gewesen.“18 Damit waren sicherlich Hoangho und Yangtze gemeint. „Der römische Staat in der Form einer Monarchie unter den Cäsaren ist nach seinem Flächeninhalt betrachtet an absoluter Größe allerdings von der chinesischen Weltherrschaft unter der Dynastie der Tsin und der östlichen Han (221 Jahre vor bis 220 Jahre nach unserer Zeitrechnung), von der Weltherrschaft der Mongolen unter Dschingis-Chan…übertroffen worden.“19 Diesem Vergleich folgt ein Überblick über die kulturelle Entwicklung: „Bewegungen, die aus dem fernsten China ausgingen, veränderten stürmisch schnell…den politischen Zustand der ungeheuren Länderstrecke, welche sich zwischen dem vulkanischen Himmelsgebirge (Thian-schan) und der Kette des nördlichen Tibet (dem Kuen-lun) hinzieht. Eine chinesische Kriegsmacht bedrängte die Hiungnu, machte zinsbar die kleinen Reiche von Khotan und Kaschgar und trug ihre siegreichen Waffen bis an die östliche Küste des Kaspischen Meeres.“20 „Die Richtung der großen Völkerfluten in Asien war von Osten nach Westen, im Neuen Kontinente von Norden gegen Süden. Anderthalb Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung…gab der Anfall der Hiungnu…auf die blonde und blauäugige…Rasse der Yüe-tshi (Geten?) und Usün, nahe an der chinesischen Mauer, den ersten Anstoß zu der Völkerwanderung…So hat sich langsam die Völkerwelle vom oberen Flußtal des Hoangho nach Westen bis zum Don und zur Donau fortgepflanzt; und Bewegungen nach entgegengesetzten Richtungen haben im nördlichen Gebiet des Alten Kontinents einen Teil des Menschengeschlechts mit dem anderen zuerst in feindlichen, später in kommerziellen, friedlichen Kontakt gebracht.“21 Die ersten Spuren eines ausgebreiteten Verkehrs des Römerreiches mit China und Indien werden folgendermaßen zusammengefaßt: „Unter der Regierung des Kaisers Claudius kam die Gesandtschaft des Rachias aus Ceylon über Ägypten nach Rom. Unter Marcus Aurelius Antonius (bei den Geschichtsschreibern der Dynastie der Han An-tun genannt) erschienen römische Legaten am chinesischen Hof. Sie waren zu Wasser über Tunkin [Tonking ] gekommen.“22

Als Ergänzung zu diesen Beziehungen bemerkt Humboldt bei dem entgegengesetzten kriegerischen Ausbruch eines südlichen Volkes, der Arber, welche die von Völkerstürmen in Europa hervorgerufene Barbarei teilweise verscheuchten: „Den ersten Anstoß zur Bewegung gab, wie wir schon früher erinnerten, der Anfall der Hiungnu auf das blonde und blauäugige…Volk der Usün, die…im oberen Flußtal des Hoangho im nordwestlichen China wohnten. Der verheerende Völkerstrom, fortgepflanzt von der gegen die Hiungnu (213 v. Chr.) errichteten großen Mauer bis in das westlichste Europa, bewegte sich durch Mittelasien, nördlich von der Kette des Himmelsgebirges.“23 Als die medizinische Schule von Edessa auf der anderen Seite in Arabien durch christlichen Fanatismus aufgelöst wurde, zerstreuten sich die sie tragenden Nestorianer nach Persien, und „es gelang ihnen, ihre Kenntnisse und ihren Glauben gegen die Mitte des 7. Jahrhunderts bis nach China unter der Dynastie der Tang zu verbreiten“24. Der Einfall der Mongolen in China störte gewiß den Verkehr über den Oxus, aber durch die vielen Verbindungen der Araber mit Indien und China gelangten wichtige Teile des asiatischen Wissens nach Europa. Die Araber spielten also im Mittelalter gewissermaßen eine Vermittlerrolle zwischen Ost und West.

Was Flora, Naturgefühl, Landschaftsmalerei und Gartenkunst im alten China anbelangt, so war Humboldt von seinem jüngeren Kollegen Philipp Franz von Siebold aus Würzburg über Flora und Vulkane in Japan gut unterrichtet. Dieser wies ihn gelegentlich auf eine kulturelle Zusammengehörigkeit Asiens hin, wie sie sich in der Verbreitung der Gewächse widerspiegelt: „Indische Pflanzen wurden schon früh nach China, Korea und Nippon verbreitet. Siebold, dessen Schriften einen weitumfassenden Überblick aller japanischen Verhältnisse liefern, hat zuerst auf die Ursache einer Vermischung der Floren entlegener buddhistischer Länder aufmerksam gemacht.“25 Humboldt kennt sich allerdings mit der europäischen Dichtung einschließlich der antiken Literatur besser aus. Im Rahmen einer sogenannten indogermanischen Dichtung wagt er auch noch tiefer in das Gebiet der Naturschilderung in der indischen Literatur einzudringen. Denn, schon in seinen öffentlichen Berliner Vorlesungen hat er, geleitet von seinem Bruder und anderen Sanskritkundigen, einzeln an das erinnert, „was ein lebendiges und häufig ausbrechendes Naturgefühl in die beschreibenden Teile der indischen Poesie eingewebt hat“26.

Darüber hinaus will er einen Blick auf die Völker Asiens zu werfen, „welche in den arischen oder indogermanischen Stämmen, den Indern und Persern, am meisten kontrastieren“27. Nach diesen Ost- und Westariern aber sind es die semitischen oder aramäischen Nationen, also vornehmlich hebräische sowie arabische literarische Denkmäler, die näher betrachtet werden, und die chinesische Naturdichtung wird mit keinem Wort gewürdigt, was offensichtlich in Naturpoesie und Landschaftsmalerei über seine Sprachkompetenz geht. Er wollte eigentlich darüber nachdenken, „was in der Lebendigkeit des Naturgefühls und der Form seiner Äußerungen von der Verschiedenheit der Rassen, vom eigentümlichen Einfluß der Gestaltung des Bodens, von der Staatsverfassung und der religiösen Stimmung abzuhängen scheint“28. Er hätte da unbezweifelt in den zahlreichen schönen Tan-Gedichten oder Tuschmalerei mit Naturmotiven Stoff genug gefunden!

Stattdessen befaßt sich Humboldt um so eingehender mit der chinesischen Gartenkunst. Er meint, „wie sich das Naturgefühl in der Auswahl und sorgfältigen Pflege geheiligter Gegenstände des Pflanzenreichs aussprach, so offenbarte es sich noch lebendiger und mannigfaltiger in den Gartenanlagen früh kultivierter ostasiatischer Völker“.29 Er ist sogar der Ansicht, daß in dem fernsten Teil des Alten Kontinents die chinesischen Gärten sich am meisten dem genähert zu haben scheinen, was man jetzt englische Parks zu nennen pflegt. Dazu sagt er, unter der siegreichen Dynastie der Han hätten freie Gartenanlagen so viele Meilen im Umfang gehabt, daß der Ackerbau durch sie gefährdet und das Volk zum Aufruhr angeregt worden wäre. Um den Geist der chinesischen Gartenkunst zu charakterisieren, zitiert er dann eine längere Aussage des alten chinesischen Schriftstellers Lieu-tscheu:

Was sucht man in der Freude an einem Lustgarten? In allen Jahrhunderten ist man darin übereingekommen, daß die Pflanzung den Menschen für alles Anmutige entschädigen soll, was ihm die Entfernung vom Leben in der freien Natur, seinem eigentlichen und liebsten Aufenthalt, entzieht. Die Kunst, den Garten anzulegen, besteht also im Bestreben, Heiterkeit (der Aussicht), Üppigkeit des Wachstums, Schatten, Einsamkeit und Ruhe so zu vereinigen, daß durch den ländlichen Anblick die Sinne getäuscht werden. Die Mannigfaltigkeit, welche der Hauptvorzug der freien Landschaft ist, muß also gesucht werden in der Auswahl des Bodens, im Wechsel von Hügelketten und Talschluchten, von Bächen und Seen, die mit Wasserpflanzen bedeckt sind. Alle Symmetrie ist ermüdend; Überdruß und Langeweile werden in Gärten erzeugt, in welchen jede Anlage Zwang und Kunst verrät.

Humboldt bemerkt dazu, daß eine Beschreibung, welche uns Sir George Staunton von dem großen kaiserlichen Garten von Zhe-hol, nördlich von der chinesischen Mauer, gegeben habe, jenen Vorschriften des Lieu-tscheu entspreche. Er kritisiert zwar nicht den französischen Garten in Paris oder einen französisch anmutenden Barockgarten in Berlin, versäumt aber nur nicht, anschließend noch an das um 1086 entstandene bekannte Gartengedicht des See-ma-kuang zu erinnern. Der 1815-45 von Fürst Pückler-Muskau an der Elbe angelegte berühmte Landschaftspark nach englischem Vorbild gehört heute zum Weltkulturerbe der UNESCO.

Einen Höhepunkt aller Darstellungen mit China-Bezug im Kosmos bildet die Erwähnung des großen beschreibenden Gedichts, in dem der Kaiser Kien-long um die Mitte des 18. Jahrhunderts die ehemalige mandschuische Residenzstadt Mukden und die Gräber seiner Vorfahren verherrlichen wollte. Darin spricht sich ebenfalls die innigste Liebe zu einer freien, durch die Kunst nur sehr teilweise verschönerten Natur aus. „Der poetische Herrscher weiß in gestaltender Anschaulichkeit zu verschmelzen die heiteren Bilder von der üppigen Frische der Wiesen, von waldbekränzten Hügeln und friedlichen Menschenwohnungen mit dem ernsten Bild der Grabstätte seiner Ahnherrn…Die beim chinesischen Volk so tief eingewurzelte Heiligung der Berge führt Kien-long zu sorgfältigen Schilderungen der Physiognomik der unbelebten Natur, für welche die Griechen und Römer keinen Sinn hatten.“30

Von besonderer Bedeutung im „Naturgemälde“ des 1. Bandes vom Kosmos ist das Verdienst, das Humboldt für das alte China vor allen anderen Völkern in Naturkenntnissen hervorhebt: „So uralt auch bei den westlichen Völkern die Kenntnis der Ziehkraft natürlicher Eisenmagnete zu sein scheint, so war doch (und diese historisch sehr fest begründete Tatsache ist auffallend genug) die Kenntnis der Richtkraft einer Magnetnadel, ihre Beziehung auf den Erd-Magnetismus nur dem äußersten Osten von Asien, den Chinesen, eigentümlich. Tausend und mehr Jahre vor unserer Zeitrechnung, zu der dunklen Epoche des Kodros und der Rückkehr der Herakliden nach dem Peloponnes, hatten die Chinesen schon magnetische Wagen, auf denen der bewegliche Arm einer Menschengestalt unausgesetzt nach Süden wies, um sicher den Landweg durch die unermeßlichen Grasebenen der Tartarei zu finden; ja im dritten Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung, also wenigstens 700 Jahre vor der Einführung des Schiffskompasses in den europäischen Meeren, segelten schon chinesische Fahrzeuge im Indischen Ozean nach magnetischer Südweisung.“31

Diese Tatsache ist für Humboldt so auffallend, daß er sie im Hauptteil des 2. Bandes „Geschichte der physischen Weltanschauung“ zweimal wiederholt. Zum einen ist aus Anlaß der Erwähnung der Universalgeographie Ptolemäus davon die Rede, daß „im fernsten Asien bei den hochgebildeten Chinesen schon die westlichen Provinzen des Reichs in vierundvierzig Abteilungen verzeichnet waren.“32 Dagegen waren die Vermessungen des ganzen Reiches bei den Römern, (was freilich im chinesische Reich viele Jahrhunderte früher geschah), trotz gewisser Vorzüge unzuverlässig: „Die völlige Unkenntnis der Nordweisung der Magnetnadel, d. i. der Nichtgebrauch der Bussole, welche schon 1250 Jahre vor Ptolemäus neben einem Wegmesser in der Konstruktion der magnetischen Wagen des chinesischen Kaisers Tsching-wang angebracht war, machte bei Griechen und Römern die ausführlichsten Itinerarien wegen Mangels der Sicherheit in den Richtungen (im Winkel mit dem Meridian) höchst ungewiß.“33

Zum anderen wird in dem Abschnitt über die Zeit der ozeanischen Entdeckungen im 15. Jahrhundert die Geschichtsquelle von dem Gebrauch der Bussole und deren Verbreitung in der ganzen Welt näher erläutert. Wenngleich Humboldt den Namen des großen chinesischen Seefahrers Zheng He (1371?-1434?) nicht nennt, kann die Wichtigkeit dieses Geräts für die praktische Nautik nicht hoch genug eingeschätzt werden: „Die Benutzung der Nord- und Südweisung des Magneten, d. i. den Gebrauch des Seekompasses, verdankt Europa sehr wahrscheinlich den Arabern, und diese verdanken sie wiederum den Chinesen. In einem chinesischen Werk (im historischen Szuki des Szumathsian, eines Schriftstellers aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung) werden die magnetischen Wagen erwähnt, welche der Kaiser Tschingwang aus der alten Dynastie der Tscheu über 900 Jahre früher den Gesandten von Tonking und Cochinchina geschenkt hatte, damit sie ihren Landweg zur Rückkehr nicht verfehlen möchten. Im 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung unter der Dynastie der Han wird in Hiutschins Wörterbuch Schuewen die Art beschrieben, wie man durch methodisches Streichen einem Eisenstabe die Eigenschaft gibt, sich mit dem einen Ende gegen Süden zu richten. Wegen der gewöhnlichsten Richtung der dortigen Schiffahrt wird immer vorzugsweise die Südweisung erwähnt. Hundert Jahre später, unter der Dynastie Tsin, benutzen dieselbe schon chinesische Schiffe, um ihre Fahrt auf offenem Meere sicher zu leiten. Durch diese Schiffe hat die Kenntnis der Bussole sich nach Indien und von da nach der Ostküste von Afrika verbreitet.“34

Schließlich war die Meinung schon lange in Europa herrschend, welche Ptolemäus im Almagest aufgestellt hatte, daß „der Alte Kontinent von der westlichen Küste der Iberischen Halbinsel bis zum Meridian der östlichen Sinen [Ostküste Chinas] einen Raum von 180 Äquatorialgraden ausfülle, d.i. seiner Erstreckung nach von Westen nach Osten die ganze Hälfte des Erdsphäroids.“35 Da auf diese Weise die Idee aufkeimte, den Orient durch eine Schiffahrt gegen Westen zu erreichen, hält es Humboldt nicht für unwahrscheinlich „daß die Araber oder die Kreuzfahrer, die mit dem Orient von 1096 bis 1270 in Berührung standen, indem sie den Gebrauch der chinesischen und indischen Seekompasse verbreiteten, zugleich auch damals schon auf die Nordost- und Nordwestweisung in verschiedenen Weltgegenden wie auf eine längst erkannte Erscheinung aufmerksam machten“.36 Denn „wir wissen bestimmt aus dem chinesischen Penthsaoyan, welches unter der Dynastie der Sung zwischen 1111 und 1117 geschrieben ist, daß man damals die Qualität der westlichen Abweichung längst zu messen verstand.“ Im Grunde genommen ist der Magnetismus eine der vielfachen Formen, unter denen sich die Elektrizität offenbart. Die uralte dunkle Ahnung von der Identität der elektrischen und magnetischen Anziehung ist zwar erst im 19. Jahrhundert wissenschaftlich nachgewiesen worden. Aber Humboldt weist auch darauf hin, daß genau so wie Plinius der Römerzeit ein chinesischer Schriftsteller, Kuopho aus dem Anfang des 4. Jahrhunderts wie folgt gesagt hatte: „Der Magnet zieht das Eisen wie der Bernstein die kleinsten Senfkörner an. Es ist wie ein Windeshauch, der beide geheimnisvoll durchweht und pfeilschnell sich mitteilt.“37 Es ist wohl auf diese lange Tradition zurückzuführen, daß seit 1828 die Erde von Toronto in Oberkanada an bis zum Vorgebirge der Guten Hoffnung und zu Van Diemens Land [Tasmanien], von Paris bis Peking mit magnetischen Warten bedeckt worden ist.

Im übrigen findet sich eine merkwürdige Stelle für den Tagungsort Chongqing, nachdem Humboldt die Tätigkeit, gleichsam das innere Leben der Erde, einschließlich ihrer elektro-magnetischen Spannung übersichtlich betrachtet hat. Er gelangt nämlich zu den stoffartigen Produktionen und erwähnt unter den Ausströmungen aus Erdspalten gekohltes Wasserstoffgas, wozu in Klammern bemerkt wird: „in der chinesischen Provinz Sse-tschuan [Si-chuan]seit Jahrtausenden, im nordamerikanischen Staat von New York im Dorf Fredonia ganz neuerdings zum Kochen und zur Beleuchtung benutzt.“38 Wenn man phantasiereich ist, könnte man eventuell daraus auch eine kleine Kulturgeschichte schreiben, wie Bertolt Brecht seinerzeit das Parabelstück Der gute Mensch von Sezuan schrieb.   

 

[1][2][3] Fussnoten

1 Vgl. zum Beispiel die seitenlange Originalanmerkung 10 zu Ansichten der Natur, in: Alexander von Humboldt, Werke Bd. V, Ansichten zur Natur. Hg. und kommentiert von Hanno Beck, Darmstadt 22008, S. 46-65.

2 Ebenda S. 109.

3 Ebenda S. 5.

4 Humboldt, Ansichten der Natur, Werke Bd. V, S. 12.

5 Vgl. eine der frühesten Humboldt-Biographien von Hermann Klencke, Alexander von Humboldt’s Leben und Wirken, Reisen und Wissen. Leipzig 1870. 6. Aufl., S. 275. Vgl. ferner die einschlägige Fachliteratur: Alexander von Humboldt, Zentral-Asien. Untersuchungen zu den Gebirgsketten und zur vergleichenden Klimatologie. Neu bearbeitet und hg. von Oliver Lubrich. Frankfurt am Main 2009.

6 Humboldt, Ansichten der Natur, Werke Bd. V, S. 6.

7 Ebenda S. 12.

8 Vgl. Johann Gottfried Herder, Werke hg. von Wolfgang Proß (Hanser Ausgabe), Band III/1 Text, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Dritter Teil (1787) I. Sina, II. Coschin-Sina, Tunkin, Laos, Korea, die östliche Tatarei, Japan

9 Humboldt, Ansichten der Natur, Werke Bd. V, S. 330.

10 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/1, S. 79.

11 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/1, S. 219f.

12 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/2, S. 129.

13 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/1, S. 273.

14 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/1, S. 293.

15 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/2, S. 96f.

16 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/2, S. 98.

17 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/2, S. 99.

18 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/2, S. 104.

19 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/2, S. 162.

20 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/2, S. 166.

21 Ebenda S. 166.

22 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/2, S. 167.

23 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/2, S. 182.

24 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/2, S. 189.

25 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/2, S. 86.

26 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/2, S. 32.

27 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/2, S. 39.

28 Ebenda S. 39.

29 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/2, S. 84.

30 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/2, S. 85f.

31 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/1, S. 158f.

32 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/2, S. 171.

33 Ebenda S. 171.

34 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/2, S. 234.

35 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/2, S. 249.

36 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/2, S. 260.

37 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/1, S. 168.

38 Humboldt, Kosmos, Werke Bd. VII/1, S. 194.

 

#3 | Humboldt als früher Exponent der Sinologie

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